MODE KUNST ARCHITEKTUR

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Mittwoch, 28. August 2013

Fluchtpunkt Kalifornien - Wie ich an meinem Geburtstag ein Schlupfloch in die Sechzigerjahre fand / Hengsteysee

An meinem Geburtstag fand ich ein geheimes Schlupfloch nach Kalifornien. Und das ausgerechnet dort, wo das Ruhrgebiet am idyllischsten ist.

Das Interessante an der Auseinandersetzung mit Architektur sind gar nicht unbedingt nur die Gebäude selbst, mit denen man sich beschäftigt, es sind auch die Geschichten, die man dabei erlebt. Manchmal ist man überrascht, plötzlich vor einem Gebäude zu stehen, das man bisher nur von Schwarz-Weiß-Fotos kannte, oder man trifft vor Ort Leute, die einem etwas erzählen, das man sonst nie herausgefunden hätte. Und hin und wieder findet man einfach so im Vorbeigehen Bauten, nach denen man nie gesucht hat, die einen aber sofort in Begeisterung versetzen und man heilfroh ist, diesen und nicht jenen Weg eingeschlagen zu haben - Gebäude, die in keinem Architekturführer stehen, aber alle Charakteristika haben, die für eine Epoche typisch sind.

 

Mein diesjähriger Geburtstagsausflug führte mich in eine Landschaft, die scheinbar nur für mich gemacht war und all das abdeckte, was ich mir unter einem gelungenen, etwas altmodischen Ausflug vorstelle. Dort, wo die Ruhr noch an vielen Stellen als idyllisches Flüsschen durch Wiesen und an grün bewachsenen Bergen vorbeifließt, liegt der Hengsteysee, zu dem man die Ruhr seit den Zwanzigerjahren aufstaut. Gleich zwei alte Wasserkraftwerke sorgen für den technischen Aspekt der Postkartsenansicht und auf einem kleinen weißen Motorschiff namens Freiherr von Stein kann man von einer Kneipe aus, deren Terasse im Schatten riesiger Kastanienbäume liegt, über den See fahren, an den modernen Neonbuchstaben des Koeppchenwerks vorbei, des spektakulären Wasserkraftwerks von 1927-30, vorbei an einem aus dem Wasser ragenden kleinen Schlösschen, das einen daran erinnert, sich auf einem Stausee zu befinden, den dunklen, waldigen Berghang entlang bis zu einer Brücke, an der gewendet wird. Spätestens jetzt sind sich alle einig: so viele Schwäne hat man bisher noch nie auf einmal gesehen. Über allem wachen hoch oben auf dem Berg die Syburg und ein ihr vorgelagertes Keiser-Wilhelm-Denkmal, weiter hinten im Wald, vom See aus nicht sichtbar, liegt ein Achtzigerjahres-Spielcasino im Dallas-Style.  


Gut sichtbar dagegen sind die drei großen weißen Buchstaben auf dem Bergkamm, die zusammen RWE bilden und früher beleuchtet wurden. Dort oben liegt ein weiterer See, von dem aus in Fallrohren das Wasser zum tiefer gelegenen Koeppchenwerk rauschte und so der Strom erzeugt wurde, für den der RWE-Schriftzug warb. An das Hollywood-Zeichen mag man dabei denken, das schließlich ebenfalls aus den Zwanzigerjahren stammt und anfangs von Glühbirnen beleuchtet in den Nachthimmel über L.A. strahlte. Am Hengsteysee kann man für ein paar Stunden die Realität der Jetztzeit verlassen und einen Ausflug in einen altmodischen Film bzw. eine Modelleisenbahn-Landschaft machen. Das wusste ich allerdings schon vorher. Rein zufällig jedoch fand die Reisegruppe auf der Suche nach einem Grillplatz dann aber auch noch ein Schlupfloch nach Kalifornien. Nachdem die Ruhr den Hengsteysee passiert hat, fließt sie in den Harkortsee. Einem Schild folgend, das zu einem gleichnamigen Turm führen sollte, fuhren wir den Berg hinauf und fanden ein weiteres ganz merkwürdiges Arrangement. Direkt vor dem dem Fabrikbesitzer Harkort gewidmeten Turm und einem Aussichtspunkt, von dem man weit über das Ruhrtal sehen konnte, lag das riesige Rechteck eines Sportplatzes. Zu dem Sportplatz wiederum gehörte das Vereinheim eines Fußballclubs. Mittlerweile war es dunkel geworden, sodass nur noch der Eingang des Vereinsheims beleuchtet war und es schien, als sei das der Eingang in das Kalifornien der Sechzigerjahre. Richard Neutra kam mir in den Sinn. 


Der Vorraum zu den Kassenhäuschen war auf der linken Seite vollkommen mit Holz verkleidet, eine niedrige Sandsteinmauer führte zu einem überdachten Weg, der ins Dunkle führte, die rechte Seitenwand bestand aus dem gleichen gelben Sandstein und endete in einem Lichtband, das die Wand von der Holzdecke trennte. Die Farben und Materialien waren perfekt kombiniert - Schwarz, das Rot der Pfeiler, das gelbliche Beige der Mauern und das braune Holz, zudem wurde die Überdachung des Weges, der geradeaus zu einem Fußballplatz führte, nur auf einer Seite von Stahlstützen getragen, den perfekten Case-Study-House-Elementen. War man gerade erst vor ein paar Wochen durch das 1:1-Modell von Mies van der Rohes Golfclub in Krefeld (Link), der ja beinahe nur aus Vordächern und Stützen besteht, für das Thema Sportclub sensibilisiert worden, musste man hier, mitten in der Nacht auf dem Harkortberg und dann auch noch als Geburtstagskind, in schiere Euphorie ausbrechen. Wie gut, dass ich mein DeWeese-Kleid angezogen hatte, auf dessen Etikett „Swim- and Sunfashions“ und „Los Angeles, California“ steht.


Dass mein Geburtstag in Kalifornien endet, hätte ich morgens, als ich aus dem Haus trat und mich freute, dass irgendein Schützenverein die gesamte Straße mit Fähnchen geschmückt hatte, nun auch nicht gedacht. Im Nachhinein fand ich die Internetseite des Sportclubs, der im Schatten des Harkortturm residiert. Das Gebüude selbst stammt wohl aus der Gründungszeit des Clubs, 1964, der Sportplatz wurde bereits 1962 angelegt. Und offensichtlich hat doch nicht jeder eine Kalifornien-Assoziation angesichts des Clubheim-Gebäudes:Link

Der Harkortturm wacht nicht nur über den gleichnamigen See, sondern auch über einen riesigen Sportplatz, der im Jahr 1962 angelegt wurde.

Koepchenwerk, Hengsteysee, 1930. Charakteristisch ist hier die Verwendung von Fallrohren.