MODE KUNST ARCHITEKTUR

Dieser Blog ist dem Material gewidmet, der Konstruktion, der Technik, der Opulenz und der Schönheit, dem Spektakulären, Aufregenden, Anekdotischen, den kleinen Details und dem großen Gesamteindruck, der Bewegung, der Farbe, dem Vergangenen und der Zukunft.

Montag, 1. Juni 2015

Berlin: Das Märkische Viertel (1963 - 1974)



Der Architekt Chen Kuen Lee, von dem dieses und einige weitere Gebäude im Märkischen Viertel stammen, studierte und arbeitete bei Hans Scharoun, bevor er sich mit einem eigenen Büro selbstsändig machte. Sein Lebensende verbrachte er im Märkischen Viertel, in einer von ihm selbst entworfenen Zwei-Zimmer-Wohnung. Hier im Bild eines der noch unrenovierten Gebäude.


Mehrfach habe ich auf dieser Seite bereits über künstlich angelegte Stadtteile berichtet, so genannte Satelliten- oder Trabantenstädte. Von der Gropiusstadt in Berlin war die Rede (Link), von Garath (Link) und dem Bürogbiet Am Seestern (Link), die beide zu Düsseldorf gehören, und auch die Neue Stadt Wulfen (Link) wurde hier schon einige Male thematisiert. In den Beschreibungen schwingt dabei immer eine gewisse Sehnsucht nach Oscar Niemeyers Brasilia und LeCorbusiers Chandigharh mit. Alleine der Ausdruck „Satellitenstadt“ lässt an den Weltraum denken, an Zukunft und Fortschritt, an die Möglichkeit, an einem anderen, weit entfernten Ort ein neues, besseres Leben zu beginnen, eine neue Zivilisation zu gründen. Die Idee der Satellitenstadt passt perfekt in die Aufbruchstimmung und die Technikbegeisterung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Konzept künstlich angelegter Stadtteile jedoch ist viel älter und stammt noch aus der Zeit, als sich LeCorbusier Gedanken über seine Ville Radieuse und den Plan Voisin machte und schließlich mit seinen Mitstreitern auf einer Reise nach Griechenland die Charta von Athen formulierte.

Zukunft am äußersten Stadtrand
In weiter Ferne liegen die neu angelegten Stadtteile tatsächlich, vor allem in einer großen Entfernung zum Zentrum der eigentlichen Stadt. Dass sich die Bewohner der neuen Wohngebiete vom Rest der Stadt abgeschnitten fühlten, darin lag von Anfang an eines der Hauptprobleme des gesamten Konzepts und wurde stark von dessen Gegnern kritisiert. Gerade Trabantenstädte, also große Wohnviertel, die im Gegensatz zu eigenständigen Satellitenstädten mangels Infrastruktur nicht als eigene Städte funktionierten, sondern tatsächlich nur dem Aufenthalt nach Feierabend dienen, warf man Leblosigkeit und Gleichförmigkeit vor. Und trotzdem: ist es nicht tausendmal aufregender, in einem Vorort von Berlin zu wohnen und von einer Wohnung im 23. Stock einen Ausblick auf futuristische Architektur und in die weite Landschaft zu haben, als in einer deutschen Kleinstadt aufzuwachsen, in der nach 18 Uhr auch kein Mensch mehr auf der Straße ist man Städte wie Berlin nur aus dem Fernsehen kennt?

Auf den Dächern der Gebäude von Hans Christian Müller und Georg Heinrichs befinden sich Atelierwohnungen. Die ursprünglichen, das Licht reflektierenden technisch-filigran wirkenden Fliesen der Penthouse-Fassaden wurden ordnungsgemäß in Dämmplatten verpackt.




Chen Kuen Lee am Senftenberger Ring, einer Ringstraße nach der Idee Georg Heinrichs', die einen Durchmesser von 500 Metern hat

Der Plan hinter dem Märkischen Viertel
Mit dem Märkische Viertel entstand in West Berlin die erste große Neubausiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz im Norden der Stadt und noch vor der Gropiusstadt. Als die Architekten und Stadtplaner um Georg Heinrichs, Hans Christian Müller und Werner Düttman im Jahr 1962 ihr städtebauliches Konzept für das Märkische Viertel vorlegten, wohnte man im Stadtteil Reinickendorf noch in Notunterkünften und unter problematischen hygienischen Verhältnissen. Zudem musste nach den Zerstörungen durch den Krieg neuer Wohnraum in großen Mengen geschaffen werden. 

Der Plan war es, trotz der Gesamtmenge von 17 000 Wohneinheiten für alle einen möglichst  individuellen Wohnraum zu schaffen. Dazu wurden mehr als fünfunddreißig Architekten aus dem In- und Ausland engagiert und auch die Stadtplaner Heinrichs (Link), Müller und Düttmann selbst entwarfen diverse Gebäude. Mit dabei waren unter anderem die Architekten Ludwig Leo, Oswald Maria Ungers,  und der ehemalige Scharounschüler und -mitarbeiter Chen Kuen Lee. Um eine Balance zwischen Individualität und Harmonie zu schaffen, entwickelte der Künstler Utz Kampmann ein übergreifendes Farbkonzept (1966 - 68). Viel Grün wurde angepflanzt, um die sumpfige Gegend zu entwässern wurden zwei große Seen angelegt und nördlich des Viertels baute man ein eigenes Fernheizwerk.


Futuristische Ideen zur Infrastruktur des Märkischen Viertels
Dass sich auch eine im Ganzen geplante und in wenigen Jahren (1963 bis 74) angelegte Retortensiedlung erst einmal entwickeln musste, ist offensichtlich. Die zunächst noch kargen, erst kürzlich angelegten Grünflächen in Verbindung mit fehlenden Kneipen, Restaurants, Schulen und Kindergärten, also das Fehlen von gewachsenen Strukturen, die das Leben in der Stadt interessant machen, wurden harsch kritisiert. Allerdings wurde auch auf die Kritik reagiert, es entstanden neben dem zentralen Marktplatz mit Einkaufszentrum und Hallenbad diverse weitere kleinere Zentren, Schulen, Spielplätze und Kirchen. Die weite Entfernung zum Stadtzentrum Berlins blieb natürlich. Ganz am Rand des Viertels erreicht man eine S-Bahn, davon abgesehen werden Busse eingesetzt. Die ursprünglich geplante U-Bahnlinie wurde nie umgesetzt. Bei sonnigem Frühlingswetter benötigt man mit dem Fahrrad etwa eine Stunde vom Alexanderplatz bis ins Märkische Viertel, wenn man gemütlich fährt. Im berüchtigten Berliner Winter sieht das vermutlich anders aus. In den Siebzigehrjahren überlegte man immerhin, für das moderne Märkische Viertel auf Schienen laufende Cabinentaxis einzusetzen, was dem futuristischen Look der Gebäude ein weiteres, zukunftsweisendes Element verliehen hätte. Anders als bei einer Schwebebahn oder einem Monorail-Zug kann der Passagier eines fahrerlosen Cabinentaxis sein Ziel individuell wählen und wird in einer computergesteuerten Kapsel vor Ort gebracht. Die Entwicklung des Cabinentaxis wurde im Jahr 1981 eingestellt.


Bodo Fleischer: Evangelische Kirchengemeinde am Seggeluchbecken, 1969 - 72. Dem Kirchengebäude ist eine Kindertagesstätte angeschlossen. Im Hintergrund: ein Gebäude von Chen Kuen Lee während der Sanierung.

Die heutige Situation
Dass das Märkische Viertel im Ganzen funktioniert, zeigt sich darin, dass viele Nachkommen der Erstbewohner der Siedlung ebenfalls ihren Wohnsitz dort wählen. Gezielt wirbt man zudem für ein positives Image des Viertels. Das Farbkonzept von Utz Kampmann wird jedoch nach und nach zerstört. Seit 2008 betreibt man die energetische Sanierung des Viertels und klebt quadratkilometerweise Dämmplatten auf die Fassaden. Wie das im Detail aussieht, weiß die Deutsche Bauzeitung (Link). 

Rechts im Bild: Wärmedämmung in ihrer schaurigsten Form.
Das Seggeluchbecken, einer der beiden eigens angelegten Entwässerungs-Seen